Rechtsfragen des § 8 Arbeitnehmerentsendegesetz III
Der Beitrag ist in der Zeitschrift Fachanwalt Arbeitsrecht (FA) 4/2018 erschienen. Verfasser sind Fachanwalt für Arbeitsrecht Jörg Hennig und Rechtsanwältin Anika Nadler von AMETHYST Rechtsanwälte.
Hier finden Sie Teil I und Teil II des Beitrags.
IV. Lösungsvorschlag
Nach der Gesetzesbegründung ist Sinn und Zweck der im Jahr 2014 in Kraft getretenen Änderung allein, der bis zum Jahr 2009 geltende Zollpraxis wieder Geltung zu verschaffen, wonach es bei der Prüfung, ob Leiharbeitnehmer dem Geltungsbereich des Arbeitnehmerentsendegesetzes unterfallen, allein auf die Tätigkeit des Arbeitnehmers und nicht auf den betrieblichen Geltungsbereich des Tarifvertrages ankam:
Die Änderung stellt klar, dass es für die Verpflichtung des Verleihers zur Gewährung der vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen allein auf die von Leiharbeitnehmern oder Leiharbeitnehmerinnen ausgeübte Tätigkeit ankommt. Der Betrieb des Entleihers selbst muss nicht dem fachlichen Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages oder einer Rechtsverordnung unterfallen. Die Regelung verhindert eine Umgehung der über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz festgesetzten Arbeitsbedingungen durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern und Leiharbeitnehmerinnen. Die Gesetzesänderung entspricht der Praxis der Kontrollbehörden bis zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21. Oktober 2009 (BAG vom 21. Oktober 2009, 5 AZR 951/08).
Auch wenn nach der Gesetzesbegründung genau diese Rechtsprechung nicht mehr gelten und stattdessen die früher geübte Praxis, die allein auf die Tätigkeit der eingesetzten Arbeitnehmer abstellt, wieder eingeführt werden soll, kann eine einschränkende Auslegung zwar schwierig sein, denn der Begründung, die auf die Tätigkeit abstellt, fehlt jeder Branchenbezug. Dass eine so weit gehende Auslegung nicht gemeint sein kann, liegt jedoch angesichts der aufgezeigten Probleme auf der Hand.
Zur Lösung bietet es sich an, den persönlichen Geltungsbereich des VTV um eine betriebliche Komponente anzureichern, nämlich den Gewerbebezug. Um nicht über den Gewerbebezug das Merkmal des betrieblichen Geltungsbereichs – contra legem – wieder einzuführen, muss es hierbei, anders als bei der konkret betriebsbezogenen Betrachtung, um eine typisierende Wertung gehen, dahin, ob diese Tätigkeiten für ein bestimmtes Gewerbe typisch oder rechtlich also solche einzuordnen sind. Denn sicher wird man eine Grenze der Anwendbarkeit des § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG in Fällen ziehen müssen, in denen es sich nicht typischerweise um Bautätigkeiten handelt, die ausnahmsweise in einem anderen Kontext ausgeübt werden, sondern um Tätigkeiten, die nicht zufällig, sondern typischer Weise in Einsatzbetrieben anderer Branchen / Gewerben ausgeübt werden. Anders wäre eine Abgrenzung zu Branchen mit konkurrierenden Tarifverträgen und auch eine Berücksichtigung der AVE-Ausnahmen nicht möglich. In diesem Fall würde man die Zuordnung dann nach der Regel vornehmen, dass eine Tätigkeit, die typischerweise in einem branchenfremden Betrieb erbracht wird, allenfalls zu einer Beitragspflicht in dort existierenden Sozialkassen oder zu entsprechenden Mindestlohnverpflichtungen führen kann.
Damit werden Hilfstätigkeiten (Transport, Beräumung, Reinigung, Lager) immer den Haupttätigkeiten zugerechnet. Eine beitragspflichtige Hilfstätigkeit besteht jedoch erst, wenn die beim Entleiher zeitüberwiegend ausgeübten Haupttätigkeiten als Baugewerbe beitragspflichtig wären. Dann aber bestehen aufgrund der Verwirklichung der Merkmale des betrieblichen Geltungsbereiches des einschlägigen Tarifvertrages ohnehin Mindestlohn- und Beitragsverpflichtungen. Es würde sich nichts ändern.
„Sowohl-als-auch“-Tätigkeiten sind nur dann mindestlohn- und beitragspflichtig, wenn sich unter Anwendung der durch die Rechtsprechung entwickelten Zuordnungsgrundsätze eine entsprechende Gewerbezuordnung vornehmen lässt.
Und auch die AVE-Ausnahmen lassen sich über den Gewerbebezug berücksichtigen: Gilt eine AVE-Ausnahme, liegt im Rechtssinne kein einschlägiger Gewerbebezug vor, selbst, wenn der betriebliche Geltungsbereich des Tarifvertrages nach seinem Wortlaut eröffnet ist.
Ein Hinweis darauf, dass diese Auslegung rechtskonform ist, lässt sich der Entscheidung des BAG vom 21.10.2009 entnehmen, in der das Gericht ebenfalls den Begriff des „Gewerbes“ ins Spiel bringt. Hier heißt es nämlich:
Käme es dagegen, wie der Kläger meint, allein auf „Tätigkeiten” aus dem Bereich des Maler- und Lackierergewerbes im Entleiherbetrieb an, führte dies zu einem Wertungswiderspruch, weil der Entleiherbetrieb an gewerbliche Arbeitnehmer, die bei ihm selbst angestellt sind, nicht den tariflichen Mindestlohn des Maler- und Lackiererhandwerks gewähren müsste (BAG v. 21.10.2009 – 5 AZR 951/08).
Das BAG zitiert (leider nur im Sachverhalt) den dortigen Kläger, der meint, es käme allein auf Tätigkeiten aus dem Bereich des Maler- und Lackierergewerbes an, und lehnt diese Auffassung mit dem Argument ab, es komme auch darauf an, dass der betriebliche Geltungsbereich des Tarifvertrages eröffnet sei. Genau diese Rechtsprechung wollte der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 8 Abs. 3 AEntG beenden und die bisherige Rechts- und Verwaltungspraxis, wonach es nur auf Tätigkeiten aus diesem Gewerbe ankomme, erneut Geltung verschaffen. Damit geht es aber nicht um die Tätigkeiten als solche, wie der Wortlaut von § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG vermuten ließe, sondern nur um solche, die auch dem jeweiligen Gewerbe zuzurechnen sind.
Die vorgeschlagene Einschränkung kann auch nach Sinn und Zweck des § 1 AEntG vorgenommen werden:
Ziele des Gesetzes sind die Schaffung und Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie die Gewährleistung fairer und funktionierender Wettbewerbsbedingungen durch die Erstreckung der Rechtsnormen von Branchentarifverträgen. Dadurch sollen zugleich sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erhalten und die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie gewahrt werden.
Hierfür genügt der Gewerbebezug der Tätigkeiten, ohne dass es auf den betrieblichen Geltungsbereich des VTV ankommt.
V. Darlegungs- und Beweislast im Prozess
Schon seit jeher sah das Bundesarbeitsgericht die Last des substanziierten Bestreitens auf Seiten der Betriebe, die sich einer Beitragspflicht widersetzten. Zwar sagen die Entscheidungen scheinbar das Gegenteil, wonach die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass in einem Betrieb arbeitszeitlich überwiegend baugewerbliche Tätigkeiten verrichtet werden, den Sozialkassen obliege. Allerdings ist deren Sachvortrag bereits dann schlüssig, wenn nur Tatsachen vorgetragen werden, die den Schluss rechtfertigen, der Betrieb des Arbeitgebers werde vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV-Bau erfasst.
Es ist jedoch nicht erforderlich, dass die ULAK jede Einzelheit der behaupteten Tätigkeiten vorträgt. Somit dürfen, wenn Anhaltspunkte für einen Baubetrieb vorliegen, auch nur vermutete Tatsachen behauptet und unter Beweis gestellt werden. Liegt ein entsprechender Tatsachenvortrag vor, hat sich der Arbeitgeber hierzu nach § 138 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO vollständig und wahrheitsgemäß unter Angabe der maßgeblichen Tatsachen zu erklären. Ihm obliegt regelmäßig die Last des substanziierten Bestreitens, weil der Kläger außerhalb des Geschehensablaufs steht und keine näheren Kenntnisse der maßgebenden Tatsachen hat, während der Arbeitgeber sie kennt und ihm die entsprechenden Angaben zuzumuten sind (BAG vom 14.03.2012 – 10 AZR 610/10).
Faktisch entscheidet die Last des substanziierten Bestreitens den Großteil solcher Beitragsprozesse. Es fällt den Sozialkassen relativ leicht, ihre Anhaltspunkte zum Bestehen von Bautätigkeiten vorzutragen, während in den betroffenen Unternehmen oftmals keine Aufzeichnungen über die durchgeführten Tätigkeiten vorliegen oder geführt werden.
Im Anwendungsbereich des § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG liegen nun aber zwei Dinge anders. Denn weder ist der Verleiher mangels eigener Beobachtung in der Lage, genauer zu ermitteln oder darzulegen, welche Tätigkeiten konkret durch die überlassenen Arbeitnehmer im Betrieb des Entleihers ausgeübt werden; noch vermag er zu sagen, wie hoch der zeitliche Anteil der Tätigkeit der Leiharbeitnehmer ist, der auf solche „Bautätigkeiten“ entfällt. Sowohl das „ob“ als auch der Umfang dieser Einsätze kann der Verleiher nicht aus eigener Anschauung beschreiben.
Die Parallele zu mit den Fällen, in denen ausländische Unternehmen mindestlohnpflichtige Tätigkeiten in Deutschland ausüben, für die der deutsche Auftraggeber im Rahmen der Subunternehmerhaftung nach § 14 AEntG haftet, liegt auf der Hand. In diesen Fällen sieht die Rechtsprechung die Sozialkassen in einer weiter gehenden Pflicht und gesteht den haftenden Unternehmen Beweiserleichterungen zu, die vor allem in einem Bestreiten mit Nichtwissen liegen. Die vom Gesetzgeber mit der Bürgenhaftung verfolgten Ziele erfordern nämlich nicht, dass ein als Bürge haftender Unternehmer sich über die von der ULAK behauptete Zahl der vom Subunternehmer eingesetzten Arbeitnehmer und deren von der ULAK behaupteten Einsatzzeiten sich nicht gemäß § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen erklären könne.
Die Sachverhalte sind in jeder Hinsicht vergleichbar. Anders als in den Fällen, in denen es um die Beschäftigung eigener Arbeitnehmer geht, fehlen dem Auftraggeber, der als Bürge haftet wie auch dem Verleiher, der seine Arbeitnehmer Entleihern zur Arbeitsleistung überlässt, sämtliche Kontrollmöglichkeiten, um die Tätigkeiten der eingesetzten Arbeitnehmer zu bewerten. Es ist daher den betroffenen Unternehmen das Recht zuzubilligen, Bautätigkeiten gem. § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen zu bestreiten.
Dasselbe gilt für die Anspruchshöhe. Die ULAK erhebt hier in der Praxis regelmäßig Mindestlohnklagen, nimmt Durchschnittslöhne und multipliziert diese mit der Anzahl der ihr im beitragspflichtigen Unternehmen bekannten Arbeitnehmer. Diese Praxis findet die Billigung der Rechtsprechung. Sie setzt allerdings voraus, dass aufgrund des Überwiegensprinzips alle Arbeitnehmer des Betriebes beitragspflichtig sind, wenn nur der Betrieb als Ganzes der Beitragspflicht unterfällt. Sofern diese in einem ersten Schritt bewiesen worden ist, bestehen gegen die Erhebung der Mindestlohnklagen daher keine Einwände.
Diese Voraussetzung fehlt allerdings bei Klagen nach § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG. Hier kann gerade nicht davon ausgegangen werden, dass alle Arbeitnehmer im Betrieb des Verleihers der Beitragspflicht unterfallen, denn der Zweck des Betriebes ist die Arbeitnehmerüberlassung und nicht die Ausübung von Bautätigkeiten. Anders als in den Fällen, in denen der Kläger nur schlagwortartig zu einem Baubetrieb vortragen muss, um eine Beweislastumkehr herbeizuführen, geht es hier um den schlüssigen Vortrag der Anspruchshöhe, für die die Rechtsprechung des BAG zur Beweislastverteilung für die Frage, ob es sich bei einem Betrieb um einen Baubetrieb handelt oder nicht, daher nicht gilt, da es in diesen Fällen um den Anspruchsgrund, nicht aber um die Anspruchshöhe geht.
VI. Fazit
§ 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG ist eine in jeder Hinsicht missglückte Norm, gegen die auch verfassungsrechtliche Bedenken sprechen. Um die Vorschrift einigermaßen handhabbar zu machen, ist sie um einen Gewerbebezug zu ergänzen. So können nur Tätigkeiten Mindestlohn- oder beitragspflichtig sein, die gewerbetypisch sind und zusätzlich aus Rechtsgründen diesem Gewerbe zugerechnet werden. Auch neutrale‑, Hilfs oder „Sowohl-als-auch“-Tätigkeiten müssen einem Gewerbe zugerechnet werden und lösen nur, wenn sie nach einer entsprechenden Zuordnung baugewerbetypisch sind, Beitrags- oder Mindestlohnansprüche aus.
Sozialkassen tragen im Prozess über die Höhe ihrer Ansprüche die Darlegungs- und Beweislast, wobei sich der betroffenen Verleiher hierzu gem. § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen erklären kann.